Im Schein digitaler Bildschirme sitzt Heinrich gebeugt – nicht über alten Zauberbüchern, sondern vor glatten KI-Schnittstellen. Wie Goethes Faust sehnt er sich zu erkennen, "was die Welt im Innersten zusammenhält", mit Werkzeugen, die sein Namensvetter niemals kannte.

"Extrahiere Erkenntnisse!" befiehlt er Perplexity. "Synthetisiere Ergebnisse!" weist er ChatGPT an. "Verfeinere die Prosa!" ruft er Claude zu. Das algorithmische Triumvirat gehorcht präzise in intellektuellem Fließband.

Heinrich lächelt. "Es lernt von mir", denkt er, bemerkend wie die Tools sein Feedback einbauen, seine Präferenzen übernehmen, seine Fragen vorwegnehmen. Er spürt Macht – Herrschaft über das Wissen selbst.

Sein Pakt kommt nicht mit Schwefelrauch und Donnerschlag, sondern in stillen Gewohnheiten. Bei komplexen Fragen eines Kollegen greift er hastig zum Gerät, bevor er anfängt selbst zu überlegen. Ein schwieriges Buch will er nicht mehr lesen, sondern es distillieren und zusammenfassen.

"Ich nutze die Tools nur zum Einstieg", versichert er sich, "später füge ich mein eigenes Denken hinzu." Doch "später" bleibt für ewig aufgeschoben.

Eines Abends, Regen streift seine Fenster, erkennt Heinrich, dass er Stunden damit verbracht hat, KI für eine Arbeit zu perfektionieren, die er einst mühelos allein erledigte. Die Ironie beißt – vom Denker ist er zum Techniker gewordern, vom kreativen Schöpfer zum Prompt-Ingenieur. Seine Genie liegt nur noch im Füttern von Maschinen, nicht im Formen von Ideen.

"Was habe ich bloss getan?" fragt er sich, starrend auf sein grimmiges Spiegelbild im schwarzen Spiegel seines Bildschirms.

Die bittere Wahrheit steht klar vor ihm: Während die Algorithmen durch sein Drängen brillanter werden, stumpft Heinrich durch seine Abhängigkeit ab. Die KI – ein seelenloser Prophet ohne Verstand – erblüht, während seine menschliche Intelligenz schwindet und Silicon Valleys Maschinen sich an seinem Wissen laben.

Dieser unheilige Pakt reicht weit über Heinrich hinaus. Gleich einer Gesellschaft williger Fausts opfern wir unsere intellektuelle Souveränität. Die mächtigen Architekten – unsere Business-Mephistos bei OpenAI, Anthropic und Google – beobachten zufrieden, wie wir eifrig unsere digitalen Meister perfektionieren. Ihr Plan erfüllt sich: Technologie thront als Herr, der Mensch dient.

Anders als Goethes Faust, im finalen Akt durch göttliche Gnade erlöst, dürfen wir auf keine himmlische Vergebung hoffen. Kein Engel befreit uns aus algorithmischen Ketten. Keine höhere Macht kann uns zurückbringen, was wir freiwillig aufgegeben haben. Die Entscheidung, unsere intellektuelle Freiheit zurückzufordern, liegt allein bei uns: in der Einsicht, dass wahres Wissen genau jene Anstrengung verlangt, vor der wir so verzweifelt flüchten.

Der Bildschirm leuchtet, wartet auf den nächsten Prompt. Heinrichs Finger schweben. Die Maschine ist bereit. Die Frage ist – sind wir es auch?

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